DIE PLANUNG DES MAUERFALLS
Dienstag, 8. September 2009
Peter Brinkmann * Kronenstrasse 70 * 10117 Berlin * 030 2082125 * peterbri@web.de
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ERLÄUTERUNGEN zum Buch "Der Tag, an dem die Mauer fiel" (Nicolai Verlag, 2009, Dr. Hans-Hermann Hertle (Hersg.)
Der Tag, an dem die Mauer geöffnet wurde: 9. November 1989
Wer irritierte Schabowski mit welcher Frage, mit welchem Zwischenruf?
Als Tag der Maueröffnung gilt der 9. November 1989. Die Vorgeschichte aber begann bereits am 7. November 1989.
Ich war am 7. November 1989 Korrespondent der Bild-Zeitung in Hamburg. Am frühen Vormittag bekam ich einen Anruf vom damaligen Staatsekretär Jörg Rommerskirchen beim Senator für Wirtschaft in Berlin. Ich kannte Herrn Rommerskirchen seit einigen Jahren. Er war zuvor leitender Beamter beim Hamburger Senator für Wirtschaft, Jürgen Steinert, gewesen.
Herr Rommerskirchen teilte mir mit, er habe soeben ein Telex vom Ministerrat der DDR erhalten. Darin wird der Senat von Berlin gebeten, zusammen mit den zuständigen Stelen der DDR eine „Arbeitsgruppe Reisen“ mit „Wirkung vom 10. November 1989“ zu bilden.
Ich fragte Herrn Rommerskirchen sofort, ob dies eine „Öffnung der Mauer“ bedeuten würde. Oder welche Sinnhaftigkeit in dieser Arbeitsgruppe sonst liegen könnte.
Der Staatssekretär wusste es auch nicht genau, meinte aber: Von einer Maueröffnung in dem Sinne, dass nun alle DDR-Bürger einfach so reisen könnten, könne wohl kaum ausgegangen werden. Dazu brauchte man kaum eine „Arbeitsgruppe Reisen“. Es sei vielmehr wohl so, dass die DDR eine größere Anzahl Bürger erlauben würde, unter bestimmten Voraussetzungen die Mauer passieren zu dürfen.
Nach diesem Anruf bin ich dann zum Chefredakteur der BILD-Zeitung, Hans-Hermann Tiedje, gegangen und habe ihm davon berichtet. Daraufhin hat er die Berliner Redaktion, u.a. den Kollegen Redakteur Hans-Hennes Schulz, befragt, was dies bedeuten könne. Schulz hat, so Tiedje mir gegenüber, ebenfalls in dem Sinne von Rommerskirchen geantwortet. Er wolle sich aber bei Herrn Rommerskirchen noch einmal selbst erkundigen, was diese „Arbeitsgruppe“ für einen besonderen Zweck erfüllen könne.
Walter Momper, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, schreibt darüber in einem Buch (Grenzfall, C. Bertelsmann, 1991), Seite 129:
„Während der Sitzung wurde der Staatssekretär in der Senatswirtschaftverwaltung, Jörg Rommerskirchen, ans Telefon herausgerufen. Er kam nach kurzer Zeit wieder in den Saal und flüsterte mir zu: „Ein befreundeter Journalist, von dem ich weiß, dass er exzellente Informationskanäle in die SED hinein hat, hat mir soeben gesagt, dass heute in der ZK-Sitzung noch eine wichtige Entscheidung zum Reisegesetz getroffen werden soll. Die ziehen das wegen der Proteste in der Bevölkerung jetzt vor und wollen Reisefreiheit geben.“
Walter Momper auch im Buch „Der Tag, an dem die Mauer fiel“ (Nicolai Verlag, 2009) Seite 28:
„Und während dieser Sitzung kam der Staatssekretär in der Wirtschaftsveraltung, Jörg Rommerskirchen, zu mir und sagte: „Ich habe von einem zuverlässigen westdeutschen Korrespondenten in Ost-Berlin den Hinweis bekommen, dass heute im Zentralkomitee eine Reiseregelung beraten wird.“ Nach dem Namen des Journalisten habe ich nicht gefragt. Ich habe Rommerskirchen aber gefragt: „Ist der auch wirklich zuverlässig?“ „Ja, ja“, sagte er, „den kenne ich gut aus Hamburg. Wenn der das sagt, dann ist das so.“
Meine Erläuterung: DER „westdeutsche Korrespondent in Ost-Berlin“ = das war Peter Brinkmann. Rommerskirchen war vor seiner Tätigkeit in Berlin „Direktor im Amt Hafen“ der Wirtschaftsbehörde in Hamburg. Peter Brinkmann war Leiter der Wirtschaftsredaktion von BILD-Hamburg und als solcher auch für Hafen und Schifffahrt zuständig. In dieser Funktion hatte er fast täglich mit Rommerskirchen zu tun.
Und hier wird auch deutlich, dass die Beratung der Reiseregelung bekannt war. Von wegen Riccardo Ehrman und sein Geheimnis..
In dem Buch „Der Tag, an dem die Mauer fiel“ ist weiter zu lesen:
Seite 26: Ingrid Hermann, stv. Pressesprecherin des Senators für Wirtschaft und Technologie, West-Berlin: „Vormittags gegen 11 Uhr klingelte mein Telefon. Ein Journalist der Bild-Zeitung war an der anderen Leitung. An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber Schulz hieß er jedenfalls nicht. Er fragte ziemlich patzig: „Bekanntermaßen ist ja der Senat ziemlich lahm in seinen Entscheidungen möchte nun von Ihnen ganz konkret wissen, was der Senat zu tun gedenkt, wenn heute Abend die mauer fällt.“ Für einen Moment verschlug es mir die Sprache, und dann fragte ich ihn: „Wie konkret ist denn Ihre Frage, worauf stützt sie sich?“ Er antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Das ist so konkret wie der Sturz von Honecker, über den „Bild“ Kurzem berichtete. Ich melde mich in zwei Stunden wieder und möchte dann eine exakte Antwort auf meine Frage.“ ………Gegen 11.30 Uhr kam ich im Reichstag an. Die Sitzung fand im Großen Sitzungssaal statt und war bereits im vollen Gange. Ich wollte dort nicht einfach so hineinplatzen und fragte den vor der Tür stehenden Pförtner nach der Sitzordnung. „Nee“, sagte der, „das kann ich Ihnen nicht sagen, ich kenne die Herren alle gar nicht. Gehen Sie doch einfach rein.“ Ein wenig zaghaft öffnete ich die Tür und hatte zum Glück gleich Blickkontakt mit unserem Staatssekretär Jörg Rommerskirchen. Ich winkte ihn zu mir, was mir natürlich sehr unangenehm war. Er schaute mich zwar ein bisschen entgeistert an, kam dann aber doch heraus. Ich erzählte ihm von dem Anruf und nannte auch den Namen des Journalisten. Darauf antwortete Rommerskirchen nur: „Behalten Sie das bitte für sich, ich werde die Information gleich an den regierenden weitergeben. Also nochmals: topsecret.“
Der Journalist der Bild-Zeitung war Peter Brinkmann. Ich rief aus Hamburg an und wollte Jörg Rommerskirchen sprechen. Er hatte mich am 7. November angerufen, um mir mitzuteilen, dass sie ein Telex bekommen hatten aus Ost-Berlin. Darin war um die Zusammensetzung eine „Projekt-Arbeitsgruppe Reise“ gebeten worden. Ich hatte ihn daher gefragt, ob dies das Ende der Mauer bedeuten würde. Seine Antwort war etwa so: Kann sein, kann nicht sein. Lass uns in Kontakt blieben. Vielleicht weiß ich morgen mehr. Und so rief ich immer wieder an.
Seite 27: Staatssekretär Jörg Rommerskirchen schildert das etwas anders: Frau Firchau (heute Frau Herrmann) rief an. Sie sagte: „Herr Rommerskirchen, ich habe soeben einen Anruf von Hans Schulz, dem Bildzeitungs-Reporter, aus Ost-Berlin bekommen. Ich soll Ihnen einen persönlichen Gruß bestellen. Heute Abend geht die Mauer auf.!“ Daraufhin sagte ich: „Danke schön, Namen dichthalten“ legt den Hörer auf, bin wieder ein, habe mich hinter Walter Momper gebeugt, gewartet, bis er zu Ende gesprochen hatte und sagte zu ihm: „Walter, ich habe gerade einen Anruf aus Ost-Berlin gehabt: Heute Abend geht die Mauer auf!“ Daraufhin drehte sich Momper um, guckte mich an und stellte mir nur eine Frage – er hat übrigens auch nie versucht, mich nach dem Namen zu fragen: „Seriöse Quelle, ja oder nein?“ Ich antwortete mit Ja.
Jörg Rommerskirchen erläuterte den Satz im September 2009: „Ergänzend muss es heißen: Ich soll Ihnen ein schönen Gruß von den beiden Reportern der Bild-Zeitung, Schulz und Brinkmann, bestellen.“
Meine Erläuterung: Ich war mit Schulz am frühen Nachmittag im Pressezentrum angekommen. Wir hatten Plätze in der ersten Reihe reserviert. Auf der PK sitzen wir – getrennt von einem Kollegen – in der ersten Reihe. Ich hatte ihm erzählt, was ich von Rommerskirchen einen tag zuvor gehört hatte. Uns beiden war es aber ebenso unklar, was es konkret bedeuten würde, wenn diese Arbeitsgruppe erst ab 10. November zusammentreten sollte. Also rief Schulz bei Momper an und stellte im „provokanten“ Ton vor die vermeintliche Tatsache: „Heute geht die Mauer auf“. Ich war allerdings nicht dabei, als er anrief. Er musste ja in die Telefonzelle im Pressezentrum gehen. Es kann so gewesen sein, es kann aber nach hinterher so gedichtet worden sein.
Tatsache aber ist, dass ich ständig mit Rommerskirchen Kontakt hatte.
Seite 29: Ingrid Hermann: „Dann fuhr ich zurück in die Pressestelle und hoffte, der Journalist würde sich zur verabredeten Zeit wieder melden, um mir Näheres mitzuteilen. Das war allerdings nicht der Fall. Schließlich rief ich bei der Bildzeitung an und erfuhr, dass dieser Herr sich noch immer in Ost-Berlin aufhielt. Herr Rommerskirchen erkundigte sich am späten Nachmittag bei mir, ob der Journalist sich noch mal gemeldet hätte, was ich verneinte.“
Meine Erläuterung: „Dieser Herr“ = der war auch Peter Brinkmann
Am 8. November 1989 habe ich nochmals mit Herrn Rommerskirchen telefoniert und ihm die Frage gestellt: „Gibt es Bewegung?“. Er verneinte. Der Stand sei unverändert. Von Seiten der DDR gäbe es keine neuen Mitteilungen. Und auch keine Erklärungen.
Weil die Lage unklar war und überhaupt nicht abzusehen war, welche genauen Pläne sich hinter dem Text im Telex verbergen könnten, bat ich den Chefredakteur Hans – Hermann Tiedje, mich nach Ost-Berlin fahren zu lassen.
Am 9. November 1989 bin ich dann morgens gegen 8 Uhr über die Grenze bei Gudow Richtung Berlin gefahren und traf dort gegen 12 Uhr ein. Ich bin sofort über die Heinrich-Heine Strasse nach Ost-Berlin gewechselt und ins Pressezentrum der DDR gefahren. Dort trafen sich die Kollegen aus der DDR, der Bundesrepublik und alle ausländischen Journalisten. Die Gerüchte Küche brodelte, Niemand ahnte allerdings, was wirklich passieren würde.
Ich habe mich dann unter den DDR-Kollegen nach der Einschätzung des Telex Textes erkundigt. Alle waren der Ansicht: Ja – Reiseerleichterungen wird es geben, aber niemals in großem Stil und vollem nicht für alle DDR-Bürger. Dann könne man die Mauer ja gleich abreißen!
Während wir im Pressezentrum in der Mohrenstrasse (heute Justizministerium) diskutierten und mutmaßten, begann die Sitzung des Zentralkomitees der SED im heutigen Außenamt. Auf der Tagesordnung stand u.a. die neue Fassung eines Reisegesetzes. SED-Generalsekretär Egon Krenz hatte den Vorsitzenden des Ministerrates, Willi Stoph, beauftragt, bis zu Beginn der Sitzung des ZK am Mittag eine neue Fassung zu erarbeiten. Diese neue Fassung liest Krenz den ZK-Mitgliedern vor (Wortlaut in seinem Buch Seite 243/44). Dort heißt es unter Punkt 2:
„Ab sofort treten folgen die zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR ins Ausland in Kraft:“
Und unter Punkt 3. heißt es:
„Über die zeitweiligen Übergangsregelungen ist die beigefügte Pressemitteilung am 10. November zu veröffentlichen.“
Diese beiden Sätze werden den Abend zum historischen Ereignis machen. Denn der von Krenz in die Pressekonferenz ab 18 Uhr entsandte Günter Schabowski verheddert sich in dem Text.
Dazu schreibt der SED-Generalsekretär Egon Krenz in seinem Buch „Herbst 89“ (Verlag Neues Leben, 1999) auf Seite 241 ff:
„Er (Schabowski) hält sich an den Text der Verordnung und der offiziellen Pressemitteilung. Aber dann der Irrtum: Die Grenzöffnung soll am Morgen des 10. November erfolgen. Für diesen Zeitpunkt sind die Befehle für die Grenztruppen, das Ministerium für Staatsicherheit und die Volkspolizei vorbereitet. Günter Schabowski antwortet jedoch auf eine Frage nach dem Zeitpunkt offensichtlich irritiert: „Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis unverzüglich.“
Diese Frage, es war eher ein lauter Zwischenruf, die Schabowski so irritierte, kam vom Korrespondenten der BILD-Zeitung in der DDR. Peter Brinkmann. Er saß direkt vor Schabowski in der 1. Reihe und hatte bereits zwei Fragen gestellt.
In der Abschrift der Sendung und im Protokoll des Tonbandes liest sich das so:
Als nun Schabowski den Text vorlas, rief Brinkmann laut dazwischen: „Ab wann tritt das in Kraft?“. Schabowski: Bitte?
Brinkmann erneut: „Ab sofort? Ab..“
Schabowski liest vom Blatt noch einmal den Text ab. Wieder Unruhe im Saal.
Es kommt eine Frage: „Mit Pass? „
Schabowski: Die Passfrage kann ich jetzt nicht beantworten.
Brinkmann ruft erneut: „Wann tritt das in Kraft?“
Schabowski: „Das tritt nach meiner Kenntnis,..ist das sofort, unverzüglich.“
Gerhard Beil flüstert ihm zu: „Das muss der Ministerrat beschließen.“
Brinkmann ruft erneut: „Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch für West-Berlin?“
Diese Zwischenrufe sind deutlich zu hören. Das Protokoll der Pressekonferenz ist abgedruckt in:
Hans-Hermann Hertle: Die Mauer
Hans-Herman Hertle: Chronik des Mauerfalls
In meinem eigenen Buch „Schlagzeilenjagd“ (Bastei –Lübbe, 1993), im ARD-Sender Phoenix und im „Berliner Kurier“ (Mauerserie 7.- 13.Novenmber 2004). Der ARD-Sender Phoenix hat erstmals 2004 anlässlich des 15. Jahrestages des Mauerfalles eine Sendung und ein Gespräch Brinkmann-Schabowski produziert, in dem ich als Zwischenrufer deutlich identifiziert wurde. Diese kurze Sequenz befindet sich auf meiner Webseite www.brinkmannpeter.de
Günter Schabowski stellte zudem diesen Text zur Verfügung, um die Details kurz vor 19 Uhr zu erhellen. Seine Erklärung lautete:
„Zeitpunkt des Inkrafttretens Kein Zweifel. Herr Brinkmann war es, der mir die ersten Fragen nach dem der neuen Regelung stellte. Er saß mir ja in dem Briefing direkt gegenüber. Nach einem kurzen Moment der Verblüffung, die wohl alle anwesenden Journalisten nach meiner Information (Verlesen des Entwurfs der entspr. Regierungsverordnung) teilten, kamen seine Fragen wie aus der Pistole geschossen. Ich hatte ihn damals noch nicht als Bild-Korrespondenten identifiziert. Das erfuhr ich erst bei späteren Begegnungen. An das Gesicht (Brille, gelichtetes Stirnhaar) erinnerte ich mich noch gut.
Das DDR-Fernsehen übertrug auf Kanal DDR1 die Pressekonferenz live. Diese Zwischenrufe sind deutlich zu hören, Die Kamera erfasst kurz danach auch den BILD-Korrespondenten Peter Brinkmann. (Eine Kopie der Übertragung ist beim deutschen Rundfunk Archiv in Berlin gegen eine Gebühr zu beziehen.)
Egon Krenz schreibt:
„Er (Schabowski) hält sich an den Text der Verordnung und der offiziellen Pressemitteilung. Aber dann der Irrtum: Die Grenzöffnung soll am Morgen des 10. November erfolgen. Für diesen Zeitpunkt sind die Befehle für die Grenztruppen, das Ministerium für Staatsicherheit und die Volkspolizei vorbereitet. Günter Schabowski antwortet jedoch auf eine Frage nach dem Zeitpunkt offensichtlich irritiert: „Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis unverzüglich.“
An der Pressekonferenz nahmen neben Günter Schabowski auch Außenhandelsminister Gerhard Beil (links neben Schabowski auf dem Podium), die ZK-Mitglieder Helga Laabs und Manfred Banaschak teil. Ich sprach mit Außenhandelsminister Gerhard Beil über diese PK:
„Ich wusste ja, dass Schabowski nicht wusste, was wirklich beschlossen war. Es war für den 9. November, also im Begriff „Sofort“, gar nichts beschlossen. Es war nur der Entwurf diskutiert worden. Die Regelung sollte wirklich erst am 10. November gelten. Während er sich also verhaspelte und durch die wiederholten Zwischenrufe von Brinkmann irritiert worden war, flüsterte ich ihm zu: Es ist so nicht beschlossen. Und schob ihm sogar einen Zettel zu, auf den ich geschrieben hatte: Das ist so nicht beschlossen. Er schaute zwar drauf, regierte aber nicht.“
Nun war also die Verwirrung perfekt.
Denn der Begriff „Sofort“ hatte im Verständnis der DDR-Bürokratie eine andere Bedeutung, als es die Journalisten aus dem westlichen Ausland verstanden. Dazu schreibt Egon Krenz in seinem Buch „Herbst `89“ auf Seite 244 in einer Fußnote:
„Es gehörte zur Praxis des SED-Politbüros, bei wichtigen Beschlüssen gleichzeitig die entsprechenden Pressemitteilungen zu beschließen. Sie wurden in der Regel abends im Fernsehen und am darauf folgenden Tag in den Printmedien veröffentlich. In der von mir am Nachmittag des 9. November 1989 vor dem ZK verlesenen Pressemitteilung, die am 10. November in der Presse veröffentlicht werden sollte, steht, dass die Reiseregelung „ab sofort“, das bedeutet ab 10. November, in Kraft tritt.“
Und in einer weiteren Fußnote auf Seite 245 schreibt Krenz:
„Schabowski las am 9. November 1989 um 18.53 Uhr – um die Frage eines Journalisten, wann die neue Reisereglung in Kraft tritt, zu beantworten: „Sofort, unverzüglich.“ – aus meinem Exemplar der Vorlage, die ich auf der Tagung des ZK verlesen hatte. Er hatte „sofort“ aus der Mitteilung für die Presse vorgelesenen, die erst am 10. November veröffentlicht werden sollte. Hier hätte er korrekt sagen müssen: ab morgen!“
Und weiter Krenz:
„Niemand von uns, der noch auf der Tagung des SED-Zentralkomitees sitzt, hat dies gehört oder während der Sitzung davon erfahren. Wir beraten weiter, während die Journalisten die Mitteilung Schabowskis verbreiten. Die Welt nimmt die sofortige Maßnahme zur Kenntnis, was eigentlich erst am 10. November vollzogen werden soll.
Um 20.45 Uhr ist die Tagung zu Ende. Krenz schließt mit den Worten: „Wir müssen wirklich einen Neuanfang wagen." Wir müssen neu anfangen und das Vertrauen zurückgewinnen.“
Da ist es längst zu spät. Das Volk handelt selber.
Warum aber, frage ich Gerhard Beil, warum erfuhr denn keiner der führenden Mitglieder der SED, der Regierung und der Armee sowie der Stasi kurz nach 19 Uhr, was da gerade passiert war?
Beil: „Die DDR war praktisch zwei Stunden tot gewesen. Einige waren schon auf dem Heimweg, in den Autos gab es damals kein Telefon. Und bis 20 Uhr war auch noch alles ruhig. Es gab also keinerlei Kommunikation zwischen den wichtigsten Männern der DDR.“
Krenz schreibt: „Die Übertragung der Pressekonferenz hat niemand von uns gesehen. Was Schabowski tatsächlich gesagt hat, erfahren wir erst Stunden später.“
Erst gegen 21 Uhr ruft Stasi-Chef Erich Mielke Generalsekretär Egon Krenz an. Mielke stammelt, irgendwas sei an der Grenze los, Schabowski habe was gesagt. Aber genaues wisse er noch nicht. Verteidigungsminister Heinz Kessler ist nicht erreichbar. Auch er sitzt im Auto nach Strausberg, Die Fahrt dauert 40 Minuten.
Kurz nach Mitternacht fährt Krenz nach Hause (Wandlitz). Erst da ruft Schabowski ihn an. Krenz schildert es in seinem Buch so:
„Er berichtet, was sich an der Grenze abspielte. Kein Wort von der Pressekonferenz und von dem dort verkündeten Öffnungstermin der Grenze. Ich werfe ihm den Irrtum nicht vor. Niemand kann sagen, wie sich die Bevölkerung verhalten hätte, wenn die Grenzöffnung wie geplant am Morgen des 10. November erfolgt wäre. Allerdings, und das ist wesentlich, am Morgen des 10. November wären die vorbereiteten Befehle vor Ort gewesen. Die Schutz – und Sicherheitsorgane hätten gewusst, was zu tun ist.“
Günter Schabowski schildert den 9. November 1989 gegenüber Peter Brinkmann so (Auszug aus dem Tonband Mitschnitt von 2004 aus Anlass 15 Jahre Mauerfall, Interview für „Berliner Kurier“, erschienen am 7. November 2004 und Text 13. November 2004):
TONBAND-ABSCHRIFT:
„Im Gebäude des Zentralkomitees (ZK) der SED (heute das Außenministerium) tagt das ZK. Es geht um viele Tagesordnungspunkte, einer davon ist das Reisegesetz der DDR. Es war schon einmal vorgelegt worden, hatte aber wegen des starken Widerstands aus der Bevölkerung zurückgezogen werden müssen. Der Generalsekretär der SED, Egon Krenz, hatte daher vom Ministerpräsidenten Willi Stoph eine neue Vorlage für den 9. November erbeten. Diese lag vor.
Egon Krenz hatte mich gebeten, mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, zu sprechen. Als ich mit Momper sprach, hab ich ihn davon informiert, dass ein Reisegesetz in Bälde veröffentlicht werden wird. Zu sprechen war ja notwendig wegen der Grenzübergänge. Der Konsistorialrat der Evangelischen Kirche, Manfred Stolpe (nach 1990 Ministerpräsident von Brandenburg, Anmerkung von P.B.) hatte dies Gespräch vermittelt. Wir hatten keine Kompetenz mit West-Berlin zu verhandeln oder gar zu sprechen. Ohne dass ich dafür besonders bevollmächtigt war, habe ich ihm gesagt, dass es zu einer Regelung kommen wird. Dabei sind wir aber davon ausgegangen, dass die Volkskammer im Dezember ein Gesetz beschließen wird. Wir dachten, jetzt würden wir nach und nach alles machen, was notwendig sein würde, um ein ordentliches Reisegesetz umzusetzen. Als wir aber den ersten Entwurf am Montag veröffentlichten, also in der Woche, in der die ZK-Tagung stattfinden sollte, schlug uns sofort eine Welle des Protestes entgegen. Eine furchtbare Situation, wir versuchten krampfhaft, den Leuten zu demonstrieren, dass wir etwas anderes wollen, wir wollten es ja besser machen. Die Einwände, die kamen, waren deutlich: 1. Es gibt kein Geld, um überhaupt reisen zu können. 2. Der Gedanke, dass die Bundesregierung in Bonn eventuell den Reisenden aus der DDR 300 DM Reisegeld zur Verfügung stellen könnte, war ja absurd. Der 2. Punkt war, dass wir nicht ins Gesetz geschrieben hatten, das jeder ausreisen kann. Nur wenn er irgendwohin will, muss er sich von dem entsprechenden Land ein Einreisevisum besorgen, nur die DDR war nicht so trainiert. Die hatte immer nur mit Ausreisevisa zu tun. Das wurde wieder so interpretiert von den Menschen, dass da wieder jemand da oben sitzt, der entscheidet, ob ich reisen darf oder nicht. Die Situation war also dem Anschein nach für sie gar nicht verändert oder beendet. Das führte dazu, dass am Abend schon in der Leipziger Demonstration Proteste gegen die Reiseregelung erfolgten. Und es kamen die ersten Streikdrohungen. Und es kamen auch Proteste aus Prag. Die Tschechen wollten, dass wir die Grenze zur CSSR dicht machten. Also mussten wir das Ventil gen Westen öffnen! Das war die logische Schlussfolgerung. Also: diese Situation bringt uns auch auf Trab. Jeder ist sich selbst der nächste. Diese Faktoren führten dazu, das wir sagten: Wir müssen diese Reiseregelungen vorziehen.
Egon Krenz beauftragt also Willi Stoph, die vorliegende Reise-Verordnung zu überarbeiten. Das war dann am 9. November 1989 fertig geworden. Der Entwurf wurde Egon Krenz überbracht und dem ZK zur Beratung vorgelegt.
Mir und auch anderen war schon klar, was freies Reisen, sollte es dann so beschlossen werden, für die DDR bedeuten würde: Die Mauer würde ihre Bedeutung verlieren. Die Mauer ist dann nur noch eine Metapher, wenn den Leuten gestattet ist, zu reisen, wohin sie wollen. Dann ist die Mauer weg. So war die ZK-Sitzung auch ein Ausdruck dafür, dass die Führung der DDR unter Druck war. Jetzt muss die SED denen verkaufen, dass die Leute reisen dürfen. Perspektivisch zu denken waren die aber nicht imstande.
Das war die Situation am Nachmittag des 9. November 1989 im ZK.
Kurz vor Schluss dieser ZK-Sitzung erhielt ich von Egon Krenz den BESCHLUßENTWURF des Ministerrates. Ich kann nur vermuten, dass Krenz wie ich selbst auch vermutet hatte, das sei der Beschluss des Ministerrates. Es war aber nur der Entwurf. Er sollte durch Abruf bis 19 Uhr verabschiedet sein. Krenz gibt mir kurz vor 18 Uhr das Ding, und ich gehe in die Pressekonferenz.
Ich gehe in dem Bewusstsein, ich habe die Entscheidung des Ministerrates in der Hand. Weil nach der Ministerratsentscheidung, die Militärs benachrichtigt werden mussten. Die wussten aber noch nichts. So hab' ich das Ding dann mitgeteilt, in dem Bewusstsein, es ist unsere Entscheidung, die realisiert ist.
In Wirklichkeit ging danach erst, unabhängig von mir, die Benachrichtigung an die Grenzübergänge raus. Das war ein rechtes Kommunikationsloch.
Als ich dann durch den Zwischenruf von Herrn Brinkmann, ab „Wann“ das gilt, noch einmal auf meinen Zettel schaue, sehe ich, es steht alles drin, ausreisen, reisen. Einundeinhalb Seite lang. Dann fragt Brinkmann noch einmal und ich schaue auch noch einmal auf das Blatt und habe mir in dem Moment gesagt, es steht gar nicht drin. Ich bin offensichtlich der Verkünder und Inkraftsetzer. Die Sperrfrist, die die sich gesetzt hatten, war früh um Viere am 10. November. Und als Brinkmann dann auch noch dazwischen ruft, „gilt das auch für West-Berlin?“, da habe ich mir gesagt, das ganze Protokoll zum Vier-Mächte Abkommen interessiert mich nicht jetzt mehr, Ich sah mich auch im Recht in der Situation.
Nach der Pressekonferenz bin ich zurück ins ZK gefahren, habe meine Tasche genommen und bin nach Hause nach Wandlitz gefahren. Ich habe keinen Moment daran gezweifelt, dass alles so verlaufen würde, wie beschlossen, also die Bürokratie funktioniert, die Grenzöffnung wird ab 10. November wirksam. Das diese Bürokratie nicht funktionieren konnte, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Ich war dann gegen 20 Uhr zu Hause. Gegen 22 Uhr bekam ich einen Anruf, da sammeln sich an der Bornholmer Str. Leute. Ich sagte: die sollen sich nicht sammeln, die sollen die da durch lassen, ich hab doch mitgeteilt, das die Grenze offen ist. Ruf mich noch mal an, falls was ist. Die riefen noch mal an, dass noch mehr Menschen gekommen waren. Ich fuhr dann wieder nach Berlin rein, um mir selbst ein Bild zu machen. Kam zur Bornholmer Str. und die waren alle vergnügt und ließen uns durch, bin dann zur Heinestrasse gefahren. Dort stieg ich aus (ca. 22.30), und schon kam einer auf mich zu und ich sagte: lassen sie sie durch. Dann sah ich, wie die mit gehobenem Ausweis da durchgingen. Beim Losfahren, wie beim Rückfahren, Wandlitz - im tiefen Schlaf lag Babylon - in Wandlitz kein Mensch. Am nächsten Morgen, die ZK-Sitzung wird fortgesetzt, mit mir hat niemand weiter gesprochen, was ist denn da los. Auch von Mielke kein Anruf - nichts. Im Politbürozimmer trinken wir Kaffee, der einzige, der eine Bemerkung macht war Mielke. Na, da hat uns ja einer schön was eingebrockt, war zu hören. Ich hab völlig ignoriert, was der erzählt.
So weit Günter Schabowski im Gespräch mit Peter Brinkmann August 2004 (Tonband Aufnahme))
Was Schabowski mit der „DDR-Bürokratie“ meinte, auf die sich so verlassen wollte, ergibt sich aus der Schilderung von Egon Krenz.
Hier noch einmal die Fußnote von Krenz auf Seite 244:
„Die Verantwortlichen für die Medienarbeit – zu dieser Zeit war es Günter Schabowski oder ein von ihm Beauftragter – hätten jetzt in der Pressemitteilung den letzten Satz ändern müssen. Statt „ab sofort“ hätten sie schreiben müssen: „ab morgen“ oder „ab 10. November.“ Niemand im ZK konnte ahnen, dass sie dies unterließen.
Der Text, also mit „Sofort“ = 10. November wird dann per Fernschreiben gegen 17 Uhr allen Bezirks-. Und Kreisleitungen der SED übermittelt.
Noch einmal ein Rückblick auf die ZK-Sitzung:
Günter Schabowski ist seit 2 Stunden draußen vor dem ZK Gebäude. Dort haben sich Bauarbeiter versammelt und es droht Ungemach. Krenz hatte Schabowski zu den Arbeitern geschickt, um mit ihnen zu diskutieren. Daher hatte Schabowski auch an der ZK Diskussion nicht teilgenommen.
Gegen 17.15 Uhr kommt Schabowski in den Saal der ZK-Tagung. Und meldet sich gleich wieder bei Krenz ab. Denn um 18n Uhr beginnt die jetzt schon übliche Pressekonferenz mit ihm im Pressezentrum der DDR in der Mohrenstrasse.
Schabowski fragt Krenz, ob er etwas Besonderes vortragen solle über und aus der Diskussion. Krenz sagt zu ihm (zitiert aus dem Buch von Egon Krenz: „): „Du musst unbedingt über den Reisebeschluß informieren. Das ist die Weltnachricht“. Krenz übergibt ihm dann ein Blatt mit der vom SED-Generalsekretär Krenz korrigierten Version des Reisegesetz- Entwurfes.
Zusammen mit Außenhandelsminister Gerhard Beil fährt Schabowski in einem Dienstwagen zum Pressezentrum.
Darüber sagte Gerhard Beil zu Peter Brinkmann:
„Ich war die ganze Zeit im ZK gewesen, hatte also die ganze Diskussion mitbekommen. Ich hatte nun erwartet, dass Schabowski mich nach weiteren Details fragen würde. Aber er hatte den Zettel von Krenz nur genommen, gefaltet und dann ungelesen in seine Tasche gesteckt. Während der Fahrt sagte er kein Wort. Ich hatte den Eindruck, dass die Diskussionen mit den Arbeitern vor dem ZK ihn sehr mitgenommen, ja aufgewühlt hatten. Als wir im Pressezentrum kurz vor 18 Uhr ankamen, hatte er nicht ein einziges Mal den Zettel von Krenz mit den Veränderungen und gelesen. „
Krenz schreibt dann zur PK einen lapidaren Satz: „Hier löst er (Schabowski) durch einen kleinen Irrtum große Folgen aus.“
Denn um 18.53 Uhr frage der Kollege Ricardo Ehrmann nach der Diskussion um das Reisegesetz. Genau diese Diskussion kannte aber Schabowski nicht. Er war nicht dabei gewesen!
Und die Grenzöffnung bahnte sich an. Zwischenrufe, ein nervöser und irritierter Schabowski. Die DDR war am Ende.
Berliner Kurier, Ausgabe 13. November 2004
Von Günter Schabowski:
Der Schmierzettel, der die Mauer sprengt
Wie ein einziger Satz plötzlich die Weltordnung
veränderte und den Eisernen Vorhang aufriss
72 Stunden nach dem misslungenen Entwurf eines Reisegesetzes, der
die Menschen zu neuerlichen Protesten und Demonstrationen
provoziert hatte, tagte das Zentralkomitee der SED. Es war der 9.
November. Innenminister Dickel händigte Krenz auf dem Plenum eine
Ersatzvariante aus: Aus dem ursprünglichen Entwurf eines Gesetzes
war eine Eil-Verordnung der Regierung über uneingeschränkte
Reisemöglichkeiten der Bürger geworden. Sie würde im Unterschied
zu einem Gesetz sofort in Kraft treten können, ohne die
Volkskammer passieren zu müssen, die erst im Dezember
zusammentreten sollte.
In dürren Worten informierte Krenz das Plenum über den Inhalt
der neuen Regelung. Er begründete den vorgezogenen Schritt mit
einer Drohung aus Prag. Der tschechische KP-Chef sei entschlossen,
die eigene Grenze dicht zu machen, falls der Flüchtlingsstrom nach
Prag anhalten sollte. Ein Wort über die massiven Einwände der
Bürger unterblieb. Das altgewählte ZK, in seiner Mehrheit unter
dem Schock der Massendemos, des Honeckersturzes und verwirrender
Dekrete aus dem Politbüro, nahm die Information ohne besondere
Debatte hin.
Ich kam erst nach mehrstündigen Gesprächen mit Journalisten
gegen 17 Uhr in die ZK-Tagung und setzte mich neben Krenz. Er
händigte mir den Regierungstext aus. Ich überflog ihn. Die
Essentials Reisefreiheit und das Recht auf ständige Ausreise waren
enthalten. Nach kurzem Abwägen des Für Entlastung von öffentlichem
Druck und wider neuerliches Eingeständnis einer hastigen
Pannenkorrektur einigten wir uns darauf, dass ich die
internationalen Pressevertreter auf dem anschließenden Briefing
von unserer Maßnahme unterrichte. "Das wird ein Knüller", war
Krenz inzwischen überzeugt.
Der viel zitierte Zufall nahm seinen Lauf. Krenz hatte mir
nichts über eine Sperrfrist gesagt, die das Innenministerium
vorgesehen hatte. Vielleicht wusste er es selbst nicht, vielleicht
hatte er es einfach ignoriert. Er behauptet bis heute verbissen
das Gegenteil. Das Papier der immer wieder beschworene "Zettel"
trug keinen solchen Vermerk. Die Regierungsbürokratie wollte es
erst früh um vier durch einen Rundfunksprecher verlesen lassen.
Aber wie hätte man Stunden vorher die Weltpresse informieren
können und ihnen anschließend Mund, Schreibmaschine oder Telefon
mit einem "Embargo" versiegeln wollen. Wenn Krenz mir mit einer
solchen Schnapsidee gekommen wäre, hätte ich sie ihm entschieden
ausgeredet. Nicht einmal mehr die befehlsgewohnte DDR-Presse war
so zu dressieren, geschweige denn die auf der Konferenz
versammelte Weltpresse. .
So kam es, dass die Grenze Stunden früher passierbar wurde, als
es sich der rote Amtsschimmel ausgedacht hatte. Bis vier Uhr früh
wähnte die hinter den Kulissen nur noch amtierende Regierung,
Zeit zu haben, um die Posten an den Grenzübergängen überall im
Lande zu benachrichtigen. Doch die sahen sich schon bald nach der
Pressekonferenz, einer rasch zunehmenden Zahl von Bürgern
gegenüber, die die Öffnung "testen" wollten.
Die Kunde von meiner Mitteilung hatte sich international, aber
mehr noch im unmittelbar betroffenen Ballungsgebiet Ost- und
Westberlin wie ein Lauffeuer verbreitet. Ja, die Nachricht hatte
schon den Erdball umrundet, in Canberra wusste man's, nur die
Grenzposten an den Berliner Übergangsstellen waren ahnungslos.
Eine mehrstündige gefährliche Phase der Unsicherheit an den
Passierstellen war die Folge. Die Fernsehbilder und Pressefotos
von dieser Nacht in Berlin gingen um die Welt und prägen die
Erinnerung an die dramatischen Stunden. Und noch heute ist es kaum
fassbar, dass es nirgendwo zu einem blutigen Zwischenfall kam.
Bewirkt wurde es durch das undramatische und eigenständige
Reagieren der Grenzposten, wie durch die überwiegend aufgekratzte
Stimmung und friedliche Haltung der Menschen auf beiden Seiten der
Grenze.
Stunden nach der Pressekonferenz sollte ich Augenzeuge des
"Wunders" werden. Bis dahin empfand ich nur Genugtuung. Sie
überlagerte den Dauerstress der Wendetage. Ich war sicher, die
Fluchtwelle würde abebben. Unser Kalkül war, wer frei reisen und
ohne Diskriminierung ausreisen, d.h. der ungeliebten DDR den
Rücken kehren will, braucht nicht mehr fluchtartig das Land zu
verlassen, ohne zu wissen, was ihn "drüben" erwartet. Inzwischen
würden wir uns als Reformer empfehlen.
In diese Vision am Ende des Tages, die eher
selbst-beschwichtigende Illusion war, schrillte mein Telefon in
Wandlitz. Es war ein Mitarbeiter der Bezirksleitung der SED. Am
Grenzübergang Bornholmer Straße passiere etwa Merkwürdiges: Viele
Menschen hätten sich dort angesammelt. Aber die Grenzer würden sie
nicht durchlassen. "Das kann doch nicht sein", sagte ich und
unterdrückte hochkommenden Ärger ("Schon wieder eine Panne. Wer
hat denn da bei der Information an die Grenzer Mist gebaut...")
Ohne Kenntnis von der Sperrfrist war ich sicher, dass der
Regierungsapparat alle notwendigen Vorkehrungen vor meiner
Verlautbarung getroffen haben musste. Den Anrufer bat ich, noch
einmal zu prüfen, ob die Blockade inzwischen vielleicht doch schon
behoben ist und mich erneut anzurufen. Wenig später klingelte
abermals das Telefon. Nichts habe sich geändert, höre ich. Die
Menschenmenge sei noch größer geworden. Aber niemand werde
durchgelassen.
Ich entschließe mich, sofort nach Berlin zu fahren und notfalls
an Ort und Stelle, dafür zu sorgen, dass die Grenze geöffnet wird.
Wo Wisbyer- und Bornholmer Straße die Schönhauser Allee kreuzen.
gibt es einen Stopp. Eine Kette von Trabis und Wartburgs,
Kühlerhaube in Richtung Grenzübergang, verstopft bereits die
Bornholmer Straße. Kein Durchkommen.
Ich nehme Kurs auf den Übergang Heinrich-Heine Straße. Als ich
dort aussteige, kommt ein Zivilist auf mich zu und skandiert in
Melde-Tonlage. "Genosse Schabowski, seit kurzen lassen die Grenzer
die Leute passieren. Es hat kein besonderes Vorkommnis gegeben."
Der Zivilist ist vermutlich einer von Mielkes Mannen, die er in
Grenznähe postiert hatte. Es war schon ein Witz: 28 Jahre hatte es
gebraucht, bis der Betonriegel weg ist. Die Grenze ist offen, und
ein Stasimann kann kein "besonderes Vorkommnis" dabei entdecken.
Ich empfinde in diesem Augenblick nur eine ungeheure
Erleichterung. Die Gefahr der Eskalation scheint abgewendet. Von
hinten trete ich an die Menge heran, die allmählich nach
Westberlin flutet. Die Stimmung ist freudig, erwartungsvoll, trotz
des Gedränges irgendwie unaufgeregt. Die Menschen ziehen mit
gezücktem blauen Personalausweis an den Grenzern vorbei. Die DDR
scheint noch nicht verloren...
Viel später sollte ich erfahren, dass die Grenzer zumindest an
einigen Berliner Passierstellen in jenen Abendstunden unter dem
Druck und den Zurufen der Berliner auf eigene Kappe den Durchlass
gestartet hatten.
Rumpelnd und knirschend war unser Wendeversuch bisher abgerollt.
Ebenso war der 9. November über die Bühne gegangen. An einer
Katastrophe waren wir nur eben vorbeigeschrammt. Als eigentliches
Wunder bleibt, dass an der fallenden Mauer kein Schuss fiel und
kein Blut geflossen ist.
Am 13. August 1961 war das triste Stück politischer Architektur
hochgezogen worden, um die DDR zu stabilisieren. Am 9. November
1989, begannen wir den Mauerabriss, um die DDR zu retten. Der
größere Irrtum war es, zu glauben, man könne mit 28-jähriger
Verspätung den rapiden Verfall der SED-Macht durch die
Maueröffnung stoppen. Es waren zwei konträre Versuche, die den
gleichen Zweck verfolgten. Beide schlugen fehl. Die Frage nach der
Lebenstauglichkeit einer sozialistischen Ideologie- und
Zwangsgesellschaft hatte sich beantwortet.
13. November 2004: Berliner Kurier:
KURIER-Reporter Peter Brinkmann: So kitzelte ich aus
Schabowski den erlösenden Mauerbrecher-Satz heraus
9. November 1989, 18. 53 Uhr. Die Pressekonferenz mit Günter
Schabowski neigt sich dem Ende zu. Plötzlich wird es wieder
spannend. Schabowski zum Thema Reisefreiheit: "Es ist, soviel ich
weiß, eine Entscheidung getroffen worden . . . eine Regelung zu
treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über
Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen". Peter Brinkmann sitzt
in der 1. Reihe der internationalen Pressekonferenz (Foto, im
Kreis). Er ruft "Wann tritt das in Kraft?" Schabowski stottert:
"Das tritt nach meiner Kenntnis . . . ist das sofort,
unverzüglich. "
Ich habe Egon Krenz nach 1989, als ich mit hm über mehrere Serien in der BILD-Zeitung aus seiner Feder, verhandelte, mehrfach gefragt, ob die Maueröffnung von ihm beabsichtigt gewesen war. Seien Antwort war immer sinngemäß so: Nein, das war nicht meine Absicht. Das wäre ohne Zustimmung der Sowjetunion ja gar nicht gegangen. Wir wollten Reiseerleichterungen, ja. Aber ich wollte nie die Aufgabe der DR. Und an einen Abriss der Mauer habe ich nie gedacht. Das war eine Folge der Äußerungen von Schabowski.
Dass mit den neuen Änderungen keine Öffnung der Mauer verbunden sein sollte, erklärt Walter Momper auf Seite 134:
„Schabowski hatte es wirklich nicht begriffen. Soeben hatte er die Mauer durch die Gewährung umfassender Reisefreiheit praktisch zu einer funktionslosen Betonwand degradiert, und nun pokerte er mit ihrem Abbau als Gegenleistung für Abrüstungsschritte. Welche Verblendung! Schabowski und die SED ahnten nicht, welche Lawine die neue Reisereglung lostreten würde. „
Seite 135: „Heute wissen wir, dass der vom Innenministerium stammende Entwurf der neuen Reiseregelung wie eine lästige Nebensache vom Politbüro während des Essens in der Mittagspause und danach ganz beiläufig vom Plenum des Zentralkomitees beschlossen wurde, jeweils in den Momenten, in denen Schabowski gerade nicht dabei war. Am Abend wurde die Regelung, die förmlich eine Anordnung des Ministerrates war, dann vom Politbüro-Mitglied Schabowski ebenso beiläufig öffentlich gemacht.“
Literatur:
Peter Brinkmann, Schlagzeilenjagd, Bastei-Lübbe, 1993, ISBN 3-404-60358-3
Egon Krenz, Herbst `89, Verlag Neues Leben, 1999
Hans-Hermann Hertle (Hrsg.): Der Tag, an dem die Mauer fiel. Nicolai Verlag, 2009, ISBN 978-3-89479-537-5
Walter Momper, Grenzfall, C.Bertelsmann, 1991, ISBN 3-570-02284-6
Hans-Hermann Hertle: Chronik des Mauerfalls, 11. Auflage, 2009, ISBN: 978-3-86153-541-6, Ch. Links Verlag
Hans-Hermann Hertle: Die Berliner Mauer, 2007, ISBN: 978-3-86153-463-1; Ch. Links Verlag
Druckdatum: 08.09.2009 14:25:11