Auszug aus meinem Buch: SCHLAGZEILENJAGD (1993, Bastei Lübbe Verlag)
DIE NACHT DER NÄCHTE IN BERLIN
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Einer der ganz großen Höhepunkte meines Reporterlebens war die Nacht des 9. November 1989. Und einmal mehr verdanke ich mein Berufsglück dem Lebensgrundsatz "Menschen kennen, Menschen mögen, Menschen treu sein".
Einen Tag, bevor die Mauer aufging, bekam ich den entscheidenden Tipp von einem Mann, den ich zig Jahre vorher als kleiner Hafenreporter an der Hamburger Elbe zum ersten Mal getroffen hatte: Jörg Rommerskirchen, damals Senatsdirektor der Freien und Hansestadt, Chef für das Amt Hafen, heute Senatsdirektor an der Spree und Chef der Berliner Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft, in diesen aufregenden Novembertagen 1989 Staatssekretär beim Berliner Wirtschaftssenator.
Ich hockte als Ressortchef Wirtschaft bei BILD in Hamburg gerade am Schreibtisch, den ich nicht so sehr liebe, als mein Freund Rommerskirchen am 8. November aus Berlin anrief: "Du, es tut sich was, wir haben gerade ein Telex aus dem Osten bekommen. Wir sollen bis zum 10.11. eine Arbeitsgruppe, genau gesagt eine "Projektgruppe Tourismus" nach 8 der Durchführungsverordnung Absatz 1, bilden, um den Reiseverkehr zwischen Berlin Ost und West zu regeln." Meine simple Frage: "Was heißt das?" Seine Antwort riss mich vom Hocker: "Das heißt, die Mauer geht auf, sieh zu, dass du hier bist."
In Hamburg und auch in der BILD-Redaktion Berlin wollte mir keiner so recht glauben. Ich bedrängte Chefredakteur Tiedje, mich um jeden Preis nach Berlin fahren zu lassen. Er schüttelte den Kopf: "Was willst du da, mach deine Wirtschaft." Ich immer wieder: " Die Mauer geht auf, lass mich fahren."
Schließlich gab er am Morgen des 9. November grünes Licht. Ich fuhr gegen 10 Uhr los, passierte die Grenze bei Gudow gegen 11 Uhr und sagte den beiden Grenzern: "Heute abend ist der Spuk vorbei." Sie hielten mich für geisteskrank.....
Ich kam in Berlin um 15 Uhr an, ging gleich ins Pressezentrum in die Mohrenstrasse. Dort war gerade eine Pressekonferenz mit Ministerpräsident Johannes Rau von Nordrhein-Westfalen zu Ende, ich sprach noch mit seinem Staatssekretär Wolfgang Clement, der ein Jahr vorher noch mein Chefredakteur bei der "HAMBURGER MORGENPOST" war, bevor er in die Politik zurückging und ich wieder zu BILD. Er hatte keine Ahnung von den kommenden Ereignissen der nächsten Stunden.
Ich reservierte mir im Pressesaal den Platz vorn rechts in der ersten linken Reihe, direkt vor dem Mikrofon auf der Bühne.
Um 18 Uhr begann dann die historische Pressekonferenz mit Politbüro-Mitglied Günter Schabowski. Ich stellte drei Fragen, wollte mir aber die entscheidende mit der Mauer-Öffnung bis zum Schluss aufbewahren, sozusagen als "Hammer".
Mein Fehler - ich kam nicht mehr dazu. Gegen 19 Uhr plauderte Schabowski selbst aus, was zum Ende der DDR führen sollte: Reisefreiheit. Weil er aber nicht sagte wann, rief ich immer wieder dazwischen: "Wann, sofort, wann, sofort, sofort?" Dies ist deutlich auf den Filmaufnahmen zu hören. Wer dabei war, weiß, wie diese Zwischenrufe Schabowski durcheinander brachten.
Dennoch sagte er kein Datum. Niemand wusste genau, wann denn nun die Reisefreiheit in Kraft trat.
Ich hatte mich auf die Schnelle im Grand Hotel in Ost-Berlin einquartiert und machte mich bereit. Zog meine dickste Hose an, Hemd, Pullover, Lederjacke. Gegen 20 Uhr holte ich ein Taxi, gab dem Fahrer 50 DM (damals soviel wie ein Monatslohn Ost) und sagte: "Wir fahren die ganze Nacht die Mauer entlang, der Spuk ist zu Ende. Aufpassen, dass wir nicht in einen Stau geraten."
Wir fuhren zuerst zur Bornholmer Strasse, dann abwechselnd zur Heinrich-Heine Strasse, Checkpoint Charly und Bornholmer.
Dann der Wahnsinnsmoment, als die Grenzbäume an der Bornholmer Strasse aufgingen - schon rasten wir zum Checkpoint Charly. Hier fuhren gerade sowjetische Offiziere ein. Ich ahnte Böses. Doch es ging gut. Gegen 22.30 Uhr standen etwa 50 Passanten vor dem geschlossenen Tor und etwa zehn Wagen. Ich ging zum Grenzoffizier und sagte ihm. "Machen Sie auf, die Grenze ist schon überall offen." Er guckte mich an als ob ich der Mann vom Mond sei... "Bitte rufen Sie Ihre Kontrollstelle in der Bornholmer Strasse an", bat ich. Er ging. Nach zwei Minuten kam er wieder, grinste mich an und sagte seinen Soldaten: "Aufmachen."
Mein Gott, das war`s. Ich verschenkte an die Autofahrer mein ganzes Geld... für das erste Bier im Westen.
Ohne Bargeld, aber mit einem unheimlich guten Gefühl fahren wir zur Heinrich Heine Strasse. Noch ist hier der Schlagbaum unten. Davor steht ein alter Bekannter - rote Haare unter der Schirmmütze der Grenztrupp, eiskalter Blick. Wenige Stunden zuvor hatte er mich etwa eine Stunde am Grenzübergang warten lassen, als ich von Ost nach West und zurück gependelt war. und steht er mit gespreizten Beinen vor dem Schlagbaum, die Arme hinterm Rücken verschränkt und grinst mich blöde an. Ich bin erregt, ja aufgeregt. Etwa 30 Autos und einige hundert DDR - Bürger stehen vor der Grenze, rufen:"Macht auf, was ist los hier."
Dann kommt Bewegung in die Grenzsoldaten. Ein Offizier kommt aus dem ersten Wachhäuschen, spricht mit den Soldaten am Schlagbaum. Dann geht er hoch - ein unbeschreibliches Gefühl. Der Weg nach Westen ist auch hier frei.
Dann ab zum Übergang Heinrich Heine Strasse, wo die Menschen glückstrahlend die Seiten wechseln. Kurz vor Mitternacht renne ich zu den Säulen des Brandenburger Tores, berühre die Steine, heule vor Freude...
Monate später spreche ich mit Hans Modrow und Egon Krenz noch einmal über den 9. November 1989. Modrow sagte mir im Frühjahr 90 über die eigenartige Grenzöffnung am 9. November 89:
"Ich war ja als ZK-Mitglied dabei, als Krenz die neue Verordnung verlas. Aber was sie wirklich bedeutete, war wohl niemandem klar, auch mir nicht. Daher gab es auch keine Diskussion. Am nächsten Morgen standen wir dann vor vollendeten Tatsachen. Aber an ein Ende der DDR hat da auch niemand geglaubt. Sonst hätte ich meine Politik in den nächsten Monaten nicht so gestalten können. Übrigens war das Kanzler Kohl auch nicht klar, denn sonst hätte es den 12 - Punkte-Vorschlag von ihm nicht geben können."
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WIE WAR ES WIRKLICH? FRAGEN AN EGON KRENZ.
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Mit Egon Krenz sprach ich unzählige Male über den 9. November. Dieses Interview führte ich mit ihm ein Jahr später:
Bild: Zufall oder Panne? Wer gab wirklich den Befehl zur Öffnung der Mauer? Sie als Generalsekretär der SED oder ein Stasi-General vor Ort?
Krenz: Ich als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR. Es war eine geplante und vorbereitete Aktion, allerdings für den 10. November.
Bild: Das sah aber vor einem Jahr ganz anders aus, als ihr Mit-Genosse Günter Schabowski am 9.11. so ganz nebenbei einen Zettel aus der Tasche zog und die Reiseerleichterungen verkündete...
Krenz: Nicht nebenbei, sondern weil wir es miteinander so vereinbart hatten.
Bild: Was haben Sie zu ihm gesagt?
Krenz: Günter Schabowski fragte mich, ob er auf seiner Pressekonferenz am Abend die neuen Reiserleichterungen, also Reisen nur mit Pass und Visum in jedes Land und nach West-Berlin, verkünden solle. Ich sagte zu ihm: Ja, verkünde diese Weltnachricht.
Bild: Wie kam es zum Beschluss?
Krenz: Ich habe das bereits am 24. Oktober vor der Volkskammer gefordert. Mit war klar: Ohne freies Reisen ging es nicht mehr. Am 6. November wurde das neue Reisegesetz veröffentlicht, stieß aber sofort auf Ablehnung in der Öffentlichkeit. Daher forderte ich am 7. November im Politbüro neue Regelungen, die das freie Reisen ermöglichen sollten. Am 9. November kurz vor 15. Uhr legte Stoph mir die Verordnung vor. Ich war einverstanden, las sie aber wegen der ungeheuren Bedeutung dem ZK laut vor. Es gab keinen Widerspruch. Damit war die Mauer durchlässig geworden.
Bild: Aber ab wann sollte es gelten?
Krenz: Ab 10. November. Die Menschen haben die Mauer also geöffnet, aber wir wollten auch gar nichts anderes. Ich habe klar gewusst, was das Volk wünschte und war mir auch bewusst, dass wir diesem Wunsch nachkommen mussten.
Bild: Was geschah an dem Abend im ZK?
Krenz: Wir erfuhren bis 20.45, dem Ende der ZK -Tagung, überhaupt nichts davon, was draußen vorging. Erst nach der Sitzung rief mich Mielke gegen 21 Uhr an und erklärte, dass es "große Menschenansammlungen an der Staatsgrenze gebe." Später rief er nochmals an, sagte. "Ich befürchte, es gibt ernsthafte Zwischenfälle."
Bild: Und dann?
Krenz: Ich entschied allein, ohne Rücksprache - Grenzen aufmachen. Und sagte Mielke: "Erich, wir haben das ohnehin beschlossen, warum nicht ein paar Stunden früher." Die Gefahr eines Bürgerkrieges war vorüber. Am nächsten Morgen sagte ich vor dem ZK: "Der Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist seit heute Nacht auf unsere Grenzen gerichtet." Der Druck war nicht zu halten, es hätte nur eine militärische Lösung gegeben. Und genau das wollte ich nicht. Meine Phantasie reichte aus, um mir vorzustellen, welche Wirkungen ein gewaltsames Zurückdrängen der Menschen an jenem Abend selbst und für die Zukunft gehabt hätte. Deshalb gab ich nach einem nochmaligen Anruf von Mielke die Weisung, die Grenzen zu öffnen."
Bild: War die Maueröffnung mit Moskau abgestimmt?
Krenz: Moskau war von mir am 1. November über die neuen Reiseregelungen informiert worden. Die Grenzöffnung war also kein Missgeschick, kein Zufall, kein Danebengreifen von Schabowski. Es war wohl überlegt und geplant worden. Das Volk hat die Grenzen geöffnet, nicht ich. Aber ich habe gehört, was das Volk verlangte.
Bild: Was sagte Moskau?
Krenz: Grenzöffnung ja, Grenzänderung nein. Einheit oder Aufgabe der DDR war kein Thema. Das lag fernab jeder Phantasie.
Soweit Genosse Krenz in meinem BILD-Interview 1990. Aber zwei Jahre später verriet er mehr, als Michail Gorbatschow zum Ehrenbürger von Berlin ernannt wurde. Krenz war darüber stinksauer und polterte los, als ich bei ihm zu Hause aufkreuzte: "In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 versuchte ich, Gorbatschow zu erreichen. Doch ich kam nur bis zur Telefonzentrale des Kreml - Michail Sergejewitsch war nirgendwo aufzutreiben. Erst 48 Stunden später kam ein Signal von ihm - die DDR bleibt, es wird und darf keine Grenzänderung geben. Mit dem Wort "Grenzänderung" umschrieb Moskau das Verlangen nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten."
Krenz war über Gorbatschow richtig erbost: "Nun lässt er sich als Ehrenbürger feiern, aber er war es doch, der bis zuletzt sich gegen die Einheit stemmte. Ich war es, der die Mauer öffnen ließ, nicht er."
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In einem Interview am 25. September 1990, wenige Tage vor der Einheit, hatte ich schon bei Krenz nachgebohrt.
Bild: Wenn Sie heute zurückblicken auf die Entscheidung am 9.11, die Mauer durchlässig zu machen, und sehen, dass diese Entscheidung zum Ende der DDR geführt hat, würden Sie diese Entscheidung dann auch so gefällt haben?
Krenz: Am 9. 11. gab es keine andere Alternative. Wenn man Blutvergießen verhindern wollte.
Bild: War Ihnen und den übrigen Politbüromitgliedern bei der Entscheidung klar, dass dies möglicherweise das Ende der DDR bedeutete? Gab es darüber Diskussionen?
Krenz: Eine solche Diskussion gab es nicht. Dieser Gang der Dinge war damals niemandem bewusst. Wer das heute behauptet, sagt nicht die Wahrheit.
Was wäre, wenn...
Als Reporter am Puls der Zeit lebt man nicht vom Spekulieren, man muss recherchieren. So hatte ich schon einen Tag vor dem Mauerfall, am 8. November, gleich nach dem Telefontip aus Berlin den Landeszentralbankchef von Hamburg in seinem Büro. aufgesucht. Ich wollte von Wilhelm Nölling konkrete Zahlen hören und fragte ihn, was es die Bundesrepublik kosten würde, um die DDR auf die Beine zu bekommen. Nölling damals: "Geld darf es nur geben gegen Reformen, Öffnung der Mauer und Abbau der Armee. Zahlen müssten wir mindestens 15 bis 20 Milliarden Mark."
Nölling war sich der katastrophalen Lage in der DDR also schon vor dem Mauerfall sehr bewusst. Heute frage ich mich um so mehr, warum auf solche Mahner und Warner wie den Hamburger Landesbanker und den Bundesbank-Chef Pöhl im Bonner Kanzleramt nicht gehört wurde. Nur weil sie beide als SPD-Mitglieder in der "falschen" Partei sind...