Aktuell - Dienstag 20 Oktober 2009 - Wahlen und Macht
DIE MAUER, DIE MENSCHEN UND DIE MITTE EUROPAS (26) – Berliner Notizen eines Wiener Korrespondenten
Der Zettel des Günter Schabowski
Die Pressekonferenz beginnt langweilig und endet mit einer Sensation – nur merkt es kaum jemand sofort. Auch nicht Politbüromitglied Günter Schabowski, als er im IPZ mit unsicheren Formulierungen die Grenzen für offen erklärt. Sieben Minuten am 9. November 1989, die die Welt verändern.
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Kurz vor 18 Uhr will ich das IPZ, das Internationale Pressezentrum der DDR, verlassen. Ich habe mit ein paar Kollegen gesprochen, ein paar Termine erfahren, ein paar Gerüchte gehört. Der Tag war lang, er hat in Schirnding an der tschechoslowakisch-bayrischen Grenze begonnen, wo eine endlose Kolonne von Trabis und Wartburgs Zehntausende DDR-Bürger in die Bundesrepublik brachte. Ich war nicht wirklich überzeugt, jetzt auch noch eine Pressekonferenz über mich ergehen lassen und den Bericht der Sitzung des SED-Zentralkomitees anhören zu müssen.
Der Saal der Pressekonferenz im ersten Stockwerk ist rappelvoll mit Kameraleuten, Fotografen und Redakteuren, kein Stuhl zum Sitzen, kein Platz zum Schreiben, keine Luft zum Atmen. Sollte ich hier etwas Wichtiges verpassen, brächten sie es dann ohnehin in der Aktuellen Kamera (DDR) um 19.30 oder in der Tagesschau der ARD um 20 Uhr. Die Abendausgabe meiner Zeitung in Wien ist längst angedruckt.
Noch unschlüssig auf der Treppe zwischen erstem Stock und Erdgeschoß verharrend, muss ich Platz machen. Günter Schabowski und seine Entourage kommen mir flott die Stufen entgegen - und reißen mich förmlich mit. Okay - wenn ich schon da bin... wer weiß, was ich verpassen könnte... Ich kehre um, eile zurück in den Saal, platziere mich links vom Saaleingang und lehne mich an die Wand. Einen besseren Platz hätte es ohnehin nicht mehr gegeben. Und: Von dort hätte ich sofort verschwinden können, wäre es allzu langweilig geworden.
Die All-inclusive-Betreuung im IPZ
Das IPZ ist das Medienzentrum in der Mohrenstraße, in dem die Journalisten rundum betreut werden - weit mehr, als ihnen lieb ist. Sie können Briefmarken kaufen und Post aufgeben, Mittag essen, Telefongespräche vermitteln lassen oder Interview- und Reiseanträge stellen. Vor allem werden sie nicht aus den Augen und aus den Ohren gelassen. Was sie im Restaurant im ersten Stock sprechen, wird lückenlos abgehört. Das Bild zum Ton bekommt die Stasi aus den Kameras, die in den weißen Kugellautsprechern an der Decke oberhalb der Restauranttische versteckt sind.
Der besondere Gesprächsfaden
Alle Gespräche der Journalisten gehen – man könnte es „Gesprächsfaden“ nennen – in den Keller des IPZ. Dort befindet sich ein modern ausgestatter Abhörraum. Was da an Erkenntnissen zusammen kommt, wird aber nicht hier ausgewertet, sondern weitergeleitet.
Ein weiterer spezieller „Gesprächsfaden“ führt aus dem Abhörkeller des IPZ hinaus. Das Kabel durchquert von der Rückseite des IPZ-Gebäudes die Kronenstraße unter der Fahrbahnoberfläche und führt in einen Plattenbau in der Leipziger Straße, der seinen Eingang in der Kronenstraße hat, der Rückseite des IPZ zugewandt.
Dort erst werden die Gespräche ausgewertet, sodass unverzüglich operative Maßnahmen ergriffen werden können, etwa die Beschattung eines Journalisten und seines Informanten, kaum dass sie sich einen Treffpunkt ausgemacht haben.
Schon am Eingang des IPZ gibt es eine doppelte Kontrolle. Jeder, der sich dem IPZ nähert, ist schon im Blickfeld eines OibE, eines Offiziers im besonderen Einsatz, noch bevor er die eigentliche Pförtnerloge des Pressezentrums passiert.
Dass ihre Tage auch im IPZ bald gezählt sind und der "Gesprächsfaden" bald reißt, wissen die OibE an dem Abend noch nicht. Was sie nach der Pressekonferenz Schabowskis kombinieren können, wir wissen es nicht.
Sogar DDR-Redakteure fragen jetzt kritisch
Schabowski fängt genau so an wie befürchtet. Im ZK gebe es großes Bedürfnis der Redner, sich zur Erneuerung der Parteipolitik und den Gründen hiefür zu äußern; deren Ton sei kritisch und selbstkritisch; sie versuchten, die eigene Verantwortung der Mitglieder des ZK und des Politbüros zu ergründen. Das ZK habe damit ein bedeutendes Zeichen gesetzt für seinen Anspruch auf die Führungsautorität der Partei. Das und Ähnliches und noch viel mehr sagt Schabowski. Was soll man denn darüber schreiben!?
Mit ungewohnt kritischen Fragen fallen diesmal sogar DDR-Redakteure auf – zum allerersten Mal.
43 Honecker-Fotos im Neuen Deutschland
Was denn er selbst gegen den Personenkult getan habe, wird Schabowski gefragt, nachdem Erich Honecker 43 Mal in einer einzigen Ausgabe des Neuen Deutschland (ND) abgebildet war. Auf die Bildveröffentlichungen, antwortet Schabowski, habe er nicht den geringsten Einfluss.
Nach seiner eigenen Vergangenheit gefragt, lässt er aufhorchen: "Ich gebe uneingeschränkt zu, dass ich als Chefredakteur des ND sowohl Subjekt als auch Objekt der Politik war, die wir heute beklagen." Er sei sich der Belastung durch diese Phase der Arbeit bewusst. "Und heute sind wir alle klüger als damals."
Der Moment des Riccardo Ehrmann
Erst nach einer guten Stunde nestelt Schabowski aus seiner Rocktasche einen Zettel heraus. Fast nebenbei. Ein Entwurf für eine Pressemitteilung über den Beschluss des Ministerrates zur Überarbeitung des Reisegesetzes.
Es ist Riccardo Ehrmann, Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur ANSA, vorne am Rand des Podiums hockend, der das Thema Reisegesetz ins Spiel bringt. Erst um 18.53 Uhr kam er mit seiner Frage an die Reihe: „Sie haben von Fehlern gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?“
Auch wenn er später immer wieder beteuern wird, Bescheid gewusst zu haben (auch in einem Interview mit mir für die österreichische Zeitung "Die Presse", für das er mich um 200 D-Mark Informationshonorar gebeten hat): Schabowski ist sich in seiner Pressekonferenz über die Brisanz keinesfalls im klaren. Er hat keine Ahnung, welchen Sprengstoff er auf dem Zettel stehen hat. Unbeabsichtigt und umständlich erklärt er die Mauer praktisch für geöffnet.
„... also das Verlassen der Republik ..."
Er stottert verunsichert rum, bringt keinen vollständigen Satz heraus. Schon wie er kompliziert anfängt: "Aus dem Entwurf des neuen Reisegesetzes wird der Passus herausgenommen und in Kraft treten, also die ständige, wie man so sagt, die ständige Ausreiseregelung, also das Verlassen der Republik..." und so weiter und so fort.
"Allerdings ist heute, soviel ich weiß, eine Entscheidung getroffen worden, und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen."
Der überfüllte Saal ist elektrisch geladen. Als Schabowski die verblüffte Reaktion bemerkt, fügt er nach kurzer Pause der Ratlosigkeit hinzu: "Also ich weiß nicht, mir ist mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon verbreitet wurde. Sie müsste eigentlich schon in Ihrem Besitz sein."
Kein einziger Journalist hat vorher das Papier gesehen.
Er spricht weiter mit vielen Ähs und sagt: "Ich drücke mich nur so vorsichtig aus, weil ich in dieser Frage nicht ständig auf dem Laufenden bin, sondern kurz, bevor ich rübergegangen bin, die Information in die Hand gedrückt bekommen habe."
Den Zettel holt Schabowski erst nach Ehrmanns Wortmeldung heraus. Ein paar Minuten vor Ende der Pressekonferenz. Ohne Ehrmanns Reisegesetz-Frage hätte Schabowski vielleicht gar nicht mehr an den Zettel gedacht, den er von Krenz zugesteckt bekommen hatte.
Die Nachfragen des Peter Brinkmann
Aber die konkrete Nachfrage - „Ab wann tritt das in Kraft? Ab Sofort?“ – kommt nicht von Riccardo Ehrmann, sondern vom damaligen “Bild”-Korrespondenten Peter Brinkmann aus der ersten Reihe. Ohne diese Brinkmann-Nachfrage wäre Schabowski nicht die entscheidende Antwort entwichen: „Das tritt nach meiner Kenntnis - ist das sofort, unverzüglich.“
Die weitere Nachfrage Brinkmanns - „Gilt das auch für Berlin West?“ – führt zum Verlesen des Passus: „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin West erfolgen.“
Gleich darauf beendet Schabowski die Pressekonferenz, die seiner Kontrolle entglitten ist. Die Konsequenzen seiner Ausführungen waren ihm selbst nicht voll bewusst. Sonst wäre er nicht nach Wandlitz heimgefahren.
"Wien bittet dringend um Rückruf!"
Ich bin sicher, dass nicht nur Schabowski selbst, sondern auch die meisten Kollegen der in- und ausländischen Presse nicht sofort kapiert haben, was da jetzt passiert war. Sie wissen mit der Ankündigung kaum etwas anzufangen. In der Heute-Sendung des ZDF und in der „Aktuellen Kamera“ wird noch unspektakulär berichtet, dass künftig auch Privatreisen ins Ausland mit Antrag, aber ohne Angabe von Gründen möglich seien. Erst die Tagesschau um 20.00 Uhr hilft mit der Spitzenmeldung “DDR öffnet Grenze“ kräftig nach.
Als Hintenstehender bin ich einer der ersten aus dem Saal draußen und renne ins Erdgeschoß zu den Telefonschaltern. Wie lang die Telefonistinnen und ich versuchen, nach Wien durchzukommen, es ist eine halbe Ewigkeit. Keine Chance mit den hoffnungslos überlasteten Nachkriegsleitungen. Es kommt keine Verbindung nach Wien zustande. Das zerrt an den Nerven.
Später bekomme ich eine Nachricht ausgehändigt, die ich als besonders witzig empfinden musste: "Die Redaktion in Wien bittet dringend um Rückruf!"
Bouzouki-Background zu DDR-Berichten
Telefonieren war immer katastrophal. Die Verbindung zu meiner Familie in Bonn klappte normalerweise um zwei Uhr nachts am besten. Mit meinen Zeitungsmanuskripten musste ich häufig über den Checkpoint Charlie rüber in den Westen. Zur Grenzübergangsstelle (GÜST) hatte ich ja nur zehn Minuten zu gehen. Trotz der peniblen Kontrollen war das der schnellste Weg der Kommunikation.
Athena II war das erste Lokal in der Friedrichstraße nach dem Checkpoint, dem chaotischen Café Adler und der Panzerkehre. In der Athena II befindet sich heute ein Mexikaner, im Café Adler ein Café Einstein und in der Panzerkehre ein Fast-Food-Restaurant.
Die griechischen Kellnerinnen kannten meine Telefonprobleme von drüben. Bei Athena II durfte ich jederzeit das Telefon zum Textdurchgeben benützen - und bekam auch noch einen Ouzo dazu.
Sobald die Redaktionssekretärin im Aufnahmekammerl griechische Bouzouki-Musik aus dem Telefonhörer vernahm, wusste sie sofort: Jetzt kommt ein Bericht unseres Korrespondenten aus der DDR.
An der GÜST Friedrichstraße Ecke Zimmerstraße – so hieß die Anlage auf der ostdeutschen Seite – war da von Mauerfall noch nichts zu merken, während sich in der Bornholmer Straße bereits die Massen zu formieren begannen. Dort erzwangen sie die erste Grenzöffnung.
Politbüro kontra Regierung – wie im alten Stil
Im Hintergrund ärgert sich der damalige Regierungssprecher. Er will seinen Namen nicht mehr öffentlich genannt wissen, um vom Medienrummel verschont zu bleiben. Er ärgert sich, weil er den offiziellen Text des Reisegesetzentwurfes schon am Nachmittag erhalten hat. „Ich hatte den Text vor mir liegen, und da stand drauf: Sperrfrist 10. November 1989, 04.00 Uhr früh. Das war ganz klar.“ In dieser Morgenstunde beginnt der DDR-Rundfunk zu senden, und ab da sollte die Meldung laufen. Als Schabowski den Text in der Llve-Übertragung des DDR-Fernsehens vorzeitig verkündet, weil er den Sperrfristvermerk übersieht, denkt der Regierungssprecher in seinem Büro: „Der hat nicht alle Tassen im Schrank!“
Außerdem ärgert er sich, weil hier wieder mal im alten Stil die Partei vorgeprescht ist, was eigentlich der Regierung zugekommen wäre. „Solche Mitteilungen waren doch Sache des Ministerrates.“ Dabei hatte der Ministerrat der Regierung Stoph, die ohnehin vor dem Rücktritt stand, einen solchen "Beschluss zur Änderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR" gar nicht gefasst. Wieder einmal musste eine Vorlage aus dem Politbüro als Regierungsbeschluss übernommen werden.
Immer mehr Journalisten rufen den Regierungssprecher an und bitten ihn um eine Stellungnahme. Er kann er ihnen nur sagen: „Tut mir leid, ich kann das nicht kommentieren.“ Im Rückblick: „Ich war damals nicht in der Lage, den klugen Otto zu spielen.“
Er fährt nach Hause. Auch dort rufen die Journalisten unentwegt an. Die Ehefrau erleidet eine Herzattacke. So beginnt die Nacht des Mauerfalls für den damaligen Regierungssprecher.
"Hat Ihre Zeitung einen Job als Pförtner?"
"Das ist eine Halluzination, dass ich einen Zettel in die Hand gedrückt bekommen hätte." Exakt ein Jahr nach seiner legendären Pressekonferenz im IPZ interviewte ich Günter Schabowski noch einmal. In seinem Rückblick klang einiges anders, als wir am 9. November 1989 in der Mohrenstraße erlebt hatten.
Egon Krenz und er seien sich einig gewesen, der Vorgriff (auf das Gesetz mit der neuen Reiseregelung, Anm. des Autors) müsse das Verlassen der DDR, aber auch Privatreisen enthalten. "Ich war gerade nicht im Zentralkomitee, ich hatte mit Journalisten zu tun. Kurz vor 18 Uhr kam ich wieder in die Beratung und fragte, ob für die Pressekonferenz noch irgendetwas mitteilenswert wäre. Da gab mir Krenz die Vorlage: 'Nimm das gleich mit, das wird ein Knüller.'"
„Das war der erste Irrtum“
Schabowski weiter: "Zu Beginn der Pressekonferenz überflog ich das Papier und sah den Begriff "Privatreise" als wichtigen Punkt. Ich verlegte die Information aber an den Schluss der Pressekonferenz, weil ich ja eigentlich über die ZK-Tagung zu informieren hatte. Ich erfuhr erst später, dass dies keine Regierungsentscheidung war, sondern nur die Vorlage. Auch die Grenzer waren ja nicht einmal noch informiert gewesen."
Krenz habe ihm das Papier in der Vorstellung gegeben, dass die Sache bereits gelaufen sei, mutmaßte Schabowski. "Für mich war es sonnenklar, dass das regierungsoffiziell sei. Das war der erste Irrtum."
„Das war der zweite Fehler“
Der zweite Fehler sei gewesen, dass die vorbereitenden Instanzen, also Innen-, Staatssicherheits-, Verteidigungsministerium etc., nach Billigung durch die Regierung die Entscheidung erst um vier Uhr am nächsten Morgen mitteilen wollten. "Ich hatte ja nur den Text der Vorlage und musste mich an die Formulierung - nämlich 'ab sofort' - halten. In dem Augenblick empfand ich: Ich bin nicht nur der Mitteiler, ich bin auch der Inkraftsetzer."
„Und das war das dritte Missverständnis“
Das wäre alles nicht so dramatisch gewesen, setzte Schabowski fort. "Aber jetzt kommt der dritte Irrtum: In der Großstadt sind wir nicht richtig verstanden worden. Die Menschen haben ja völlig außer acht gelassen, dass sie bei der Polizei den Stempel hätten holen müssen. Es verbreitete sich aber wie ein Lauffeuer, wir hätten uns zur Grenzöffnung entschlossen. Das Wann und Wie stand gar nicht mehr zur Debatte." - "Aber Sie waren doch auf der Pressekonferenz sichtlich überrascht, als Sie merkten, dass die Journalisten noch nichts von der Regelung gewusst haben?" - "Nein. Ich wusste ja, dass ich der erste bin, der sie davon informiert."
"Und was war das für ein Gefühl beim Verlesen?" - Das Verlesen hatte ich mehr auf Understatement angelegt. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, das sei eine große Sensation, sondern ein Schritt von mehreren, die wir ohnedies vorhatten. Wir waren ja noch in dem Glauben, die SED könnte es als gewandelte Partei schaffen. Die Rücktritte und die Wirtschaftsreformen waren die anderen Schritte."
Zu Hause in Wandlitz
"Und als die Mauer in der Nacht gestürmt wurde, was haben Sie da gedacht?" - "Ich habe erst durch Anrufe davon erfahren, zu Hause in Wandlitz. Ich bin nach Berlin gefahren und habe mir das angesehen. Ich befürchtete: Jetzt läuft die DDR aus. Als ich durch die Stadt fuhr, sah ich aber, dass die Stimmung sehr entspannt und fröhlich war. Anfangs hielten die Leute den Grenzern noch den Personalausweis hin. Das war eine große Erleichterung für mich. Ich sagte mir: Gottverdammt, wir haben doch recht gehabt, dass wir es riskiert haben. Die DDR geht nicht kaputt, die Leute gehen rüber und kommen wieder zurück. Ich hab den Krenz angerufen: Hör mal, die Sache läuft nicht schlecht für uns."
Den Wahrheitstest nicht bestanden
"Dass Sie kein Jahr später Bundesdeutscher sind, hätten Sie sich damals nicht gedacht?" - "Wenn das einer gesagt hätte, den hätte ich nicht für normal gehalten. Aber das trifft auch für Leute von der Bonner Regierung zu. Es war ja alles drin: Das, was dann draus geworden ist; aber auch die Variante, die wir geglaubt haben: größerer Vertrauensgewinn und internationaler Reputationsgewinn. Ungewollt wurde dieses System dem Wahrheitstest unterzogen, und es hat diesen Test nicht bestanden."
Dem Erich Honecker bescheinigte Schabowski Unfähigkeit, politische Entwicklungen noch zu verstehen, "und eine greisenhafte Sicht der Dinge: 'Die ganze Welt ist außer Tritt, ich bin der einzige, der im Gleichschritt ist.' Das ist natürlich tragisch. Er glaubt, dass er seiner Überzeugung treu ist, und ist unfähig zu begreifen, welche Rolle die Menschen in der Politik spielen. Das alles bestätigt nur, wie notwendig es war, dass wir ihn seinerzeit gestürzt haben."
Zum Ende des längeren Gesprächs fragte ich ihn, was er jetzt beruflich mache. "Ich mache nichts beruflich. Ich habe keine Arbeit. Ich habe einen Antrag auf Vorruhestand gestellt. Ich hab ja eine fünfköpfige Familie und mir keine kriminellen Delikte zuschulden kommen lassen. Hat Ihre Zeitung einen Job für mich als Pförtner oder so? Ich muss ja sehen, wie ich meine Truppe hier durchkriege."
Ein Jahr vor dem 20-Jahr-Jubiläum seiner Pressekonferenz und kurz vor dem 80. Geburtstag zog Schabowski mit seiner Frau Irina von der Wilhelmstraße in Berlin-Mitte, wo er für eine 100 Quadratmeter große Wohnung 1.000 Euro Miete zu zahlen hatte, in eine 80 Quadratmeter große Bleibe in der Zähringer Straße in Westberlin. „Das ist billiger und reicht uns“, sagte er, als ich ihn Anfang 2009 anrief. Er erzählte, dass er sich auch im Jubiläumsjahr aus gesundheitlichen Gründen vor den vielen Anfragen schützen müsse und nur eine Veranstaltung pro Woche mitmachen könne.
„Ein ganz schlimmer Finger“
Für die damaligen SED-Genossen ist er Verräter. Als ich Lothar Bisky, den Vorsitzenden der Linkspartei, Ende September 2009 fragte, wie er damals auf Schabowskis Pressekonferenz reagiert habe, verlor er fast die Contenance: "Schabowski ist ein ganz, ganz schlimmer Finger! Ich bin froh, dass er jetzt in der CDU ist!" Schabowski sei der schlimmste Chefredakteur gewesen, den das Neue Deutschland je gehabt habe. "Das war ein ganz schlimmer Dogmatiker, bis zuletzt!" Schabowski habe die Künstler verachtet, geschurigelt, verfolgt und fertig gemacht.
Ähnlich ist das Verhältnis mit Egon Krenz. Schabowski will sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er Krenz zuletzt gesehen hat.
Wie sich Mythen und Fakten rund um die entscheidende Frage des italienischen Korrespondenten Riccardo Ehrmann vermischen, wie die Nacht nach der Pressekonferenz verlaufen ist und was man später aus dem Schauplatz dieses historischen Moments in der Mohrenstraße gemacht hat, beschäftigt uns in den nächsten Kapiteln.
Ewald König, Chefredakteur von EurActiv.de, war zu Zeiten der Wende Deutschland-Korrespondent der österreichischen Zeitung DIE PRESSE. Für die Leser von EurActiv schildert er in einer Serie, was er vor zwanzig Jahren erlebt hat.
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